Quelle: Handelsblatt (Artikel hinter der Paywall)
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Berlin. Drohender Gasmangel, niedrige Speicherstände und Rekordpreise: 2022 war geprägt vom Energieschock. Davon ist derzeit nichts mehr zu spüren. Aber Hausbesitzer, Mieter und Unternehmen fragen sich: Wie hoch wird die Rechnung im kommenden Winter ausfallen?
Das Handelsblatt hat mit Energie-Experten über die Gas-Versorgungslage gesprochen. Die meisten sind zuversichtlich. Vorbehaltlose Entwarnung gibt aber niemand.
„Gegenüber dem vergangenen Jahr hat sich die Lage entspannt“, sagt Gregor Pett, Chefanalyst des Gasimporteurs Uniper . Die Verfügbarkeit von Pipelinegas und verflüssigtem Erdgas (LNG) sei hoch. Aber: „Man darf die Unsicherheiten nicht ausblenden.“
Jörg Selbach-Röntgen, Chef des Energiehändlers MET Germany, sieht das ähnlich. „Schon eine kleine Unwucht im System, etwa ein unvorhergesehener Ausfall von Infrastruktur, kann deutlich spürbare Preisausschläge zur Folge haben“, sagt er.
Es kommt also nicht allein auf hohe Füllstände an. Ein Blick auf die Gasversorgung im kommenden Winter zeigt, an welchen Stellen sich die Lage nachhaltig entspannt hat und wo es Risiken gibt.
Im Gegensatz zum vergangenen Jahr sind die Gasspeicher wieder gut gefüllt. Der Speicherstand liegt aktuell nach Daten der Bundesnetzagentur bei 88 Prozent. Damit ist der Speicherstand den gesetzlichen Vorgaben weit voraus.
Das im vergangenen Jahr verabschiedete Gasspeichergesetz schreibt vor, dass die Speicher zum 1. September zu 75 Prozent, zum 1. Oktober zu 85 Prozent und zum 1. November zu 95 Prozent gefüllt sein müssen und am 1. Februar immer noch zu 40 Prozent. Der aktuelle Gasfüllstand übertrifft damit die gesetzlichen Vorgaben deutlich.
Gut gefüllte Speicher spielen eine wesentliche Rolle bei der Versorgungssicherheit und wirken wie eine Versicherung gegen Engpässe. Sebastian Bleschke, Geschäftsführer der „Initiative Energie speichern“ (INES), in der sich die Betreiber der Gasspeicher zusammengeschlossen haben, sieht die Befüllung der Speicher momentan als Selbstläufer.
„Die niedrigen Gaspreise motivieren dazu, Gas einzukaufen und dieses dann im Winter mit einem Aufschlag zu verkaufen“, sagt Bleschke.
Es besteht also ein marktwirtschaftlicher Anreiz, die Gasspeicher zu befüllen. Mit anderen Worten: Der Staat muss nicht nachhelfen, er muss niemanden darum bitten, mit Steuergeldern Gas einzukaufen, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen.
Deutschland verfügt in Mittel- und Westeuropa über die mit Abstand größten Gasspeicherkapazitäten für Erdgas. Die Kapazitäten reichen aus, um die Bundesrepublik für zwei bis drei durchschnittlich kalte Wintermonate zu versorgen – vorausgesetzt, die Speicher sind zu Beginn der Heizsaison gut gefüllt.
Doch auch noch so gut gefüllte Speicher tragen Deutschland und seine Nachbarländer nicht sicher durch den Winter. Es muss gerade ab Beginn des Winters, wenn der Gasverbrauch hoch ist und die Speicher in Anspruch genommen werden, permanent Gas nachgeliefert werden.
Früher ließ sich das durch die existierenden Pipelines bewerkstelligen. Doch im Sommer vergangenen Jahres stellte Russland die Lieferungen über die Ostseepipeline Nord Stream 1 komplett ein, der Gastransit durch die Ukraine wurde drastisch reduziert. Seitdem ist Deutschland darauf angewiesen, dass insbesondere Norwegen mehr Gas liefert – und dass mehr verflüssigtes Erdgas (Liquefied Natural Gas, kurz LNG) Deutschland erreicht.
Bis Ende vergangenen Jahres war Deutschland mangels eigener LNG-Terminals bei der Lieferung von verflüssigtem Erdgas komplett auf die Terminals anderer Länder angewiesen. Die Bundesregierung trieb den Aufbau einer eigenen LNG-Infrastruktur voran.
Allerdings wird die neue Infrastruktur auch Ende des Jahres noch nicht die Kapazitäten der Pipelines aus Russland ausgleichen können. Uniper-Experte Pett formuliert das so: „Mit Blick auf kurze und mittlere Sicht ist die deutsche LNG-Infrastruktur sicher nicht überdimensioniert.“
Auch Matthias Peter, Geschäftsführer beim Gasimporteur Sefe (früher Gazprom Germania), sieht noch Schwachstellen: „Um eine für Deutschland autonome LNG-Infrastruktur zur Verfügung stehen zu haben, müssen noch einige der zurzeit in der Entwicklung befindlichen LNG-Anlandeterminals in Betrieb gehen.“ Ob es zu Engpässen kommen werde, lasse sich noch nicht abschließend prognostizieren.
MET-Chef Selbach-Röntgen begrüßt die Bemühungen der Bundesregierung für mehr LNG-Terminals: „Es ist gut, dass erheblich in den Ausbau der Infrastruktur investiert wurde. Ich betrachte das als volkswirtschaftlichen Versicherungsschutz.“
Die Frage nach der Versorgungssicherheit kann zwar niemand abschließend beantworten, weder auf kurze noch auf lange Sicht. Allerdings dominiert im Moment eine gewisse Gelassenheit. Beschaffung und Nachfrage befänden sich zurzeit im Gleichgewicht, sagt Sefe-Geschäftsführer Peter. Der Markt sei ausreichend versorgt, was die Entspannung an den Handelsplätzen widerspiegele.
So bewertet es auch Uniper-Analyst Pett: „Aktuell ist das Preisniveau entspannt.“ Im Moment gebe es keine Anzeichen für die hohen Preise jenseits der 300-Euro-Grenze wie im vergangenen Jahr.
Nach Einschätzung von INES-Geschäftsführer Bleschke ist der Weltmarkt derzeit ausreichend liquide.„Es ist kein Gasmangel für uns wahrnehmbar“, sagt er. Das sorgt für das im Moment sehr moderate Preisniveau.
Die Frage, ob der LNG-Markt liquide bleibt, ist eng mit der Entwicklung in China verknüpft. Darauf weist Uniper-Experte Pett hin: „China hat als weltweit größter LNG-Importeur großen Einfluss auf das Preisgefüge.“ Die Nachfrage Chinas sei im ersten Halbjahr deutlich unter den Maximalwerten der Vor-Corona-Zeit geblieben.
Das sieht Sefe-Geschäftsführer Peter ähnlich: „China hatte im vergangenen Jahr einen Verbrauchsrückgang von circa 20 Prozent zu verzeichnen“, sagt er.
Die Importe stiegen nach Aufhebung der Beschränkungen im Kampf gegen Corona zwar wieder an, ein Vorpandemie-Niveau werde für 2023 noch nicht erwartet.
MET-Chef Selbach-Röntgen mahnt in diesem Zusammenhang allerdings vor Euphorie: Aus Asien komme derzeit zwar nicht die Nachfrage, von der einige noch vor ein paar Monaten ausgegangen seien. „Aber das kann sich sehr schnell ändern und es hätte dann sicher spürbare Auswirkungen auf die Preise“, sagt er.
Der Einfluss der Temperatur im kommenden Winter auf die Preise ist nicht zu unterschätzen, darauf weisen alle Fachleute hin. Im zurückliegenden Winter war der Winter mild.
Ein kalter Winter könnte die Perspektiven eintrüben. INES-Geschäftsführer Bleschke sagt: „Die sichere und unterbrechungsfreie Versorgung mit Erdgas ist im kommenden Winter nur dann gefährdet, wenn es sehr kalt wird, etwa so wie im Winter 2010“, sagt Bleschke vom Verband der Speicherbetreiber. Damals lag die Durchschnittstemperatur bundesweit laut Deutschem Wetterdienst bei minus 1,5 Grad Celsius.
Hier kommt wieder die LNG-Infrastruktur ins Spiel: Sie ist noch nicht gut genug ausgebaut, um an extrem kalten Tagen den entstehenden Gasbedarf zu decken. „Die drei bislang in Betrieb genommenen schwimmenden LNG-Importterminals sind mit Blick auf den kommenden Winter nicht ausreichend. Wenn der Winter kalt werden sollte, könnte es immer noch zu einer Unterdeckung kommen“, sagt Bleschke
Die möglichen Gasimporte und gespeicherten Gasmengen reichten in diesem Fall nicht aus, um die Nachfrage nach Gas vollständig zu decken.
Matthias Peter von Sefe warnt, es könnten Verwerfungen auftreten, wenn ein früher Winter sehr kalt werde und bereits große Mengen aus den Speichern bereitgestellt werden müssten.
Und eins halten alle Fachleute für einen großen Fehler: Die Normalisierung der vergangenen Monate verleitet viele Gasverbraucher dazu, es mit dem Sparen nicht mehr so genau zu nehmen. „Wir sollten unbedingt den Gedanken wachhalten, dass Energiesparen wichtig ist und wichtig bleibt“, sagt Gregor Pett von Uniper.
Autor: Klaus Stratmann